Sie hüllte und enthüllte
von Lula Pergoletti Durch Bildhauerei entwuchs Heidi Bucher patriarchalen Räumen. Das Kunstmuseum Bern widmet der Schweizer Künstlerin mit «Metamorphosen I» eine Retrospektive.Veranstaltungsdaten
Als ob sich kassettenverzierte Wände wie eine Schlange gehäutet hätten, schweben stoffartige Abzüge im Raum. Türen und Fenster lassen sich durch die dunklere, dickere Patina erahnen. Hergestellt aus Textilien und flüssigem Latex, scheinen sich die akkuraten Abgüsse von Räumen – darunter das Atelier von Heidi Bucher, ihr Elternhaus und die Obermühle Winterthur – zu häuten. Übrig bleibt eine zarte, bernsteinfarbige Membran, das Negativ einer vergangenen Zeit.
Seziererin der Räume
«Herrenzimmer» heisst eines der monumentalen Werke der oftmals verkannten Künstlerin Heidi Bucher, zu sehen in der Retrospektive im Kunstmuseum Bern. Ergänzend zu den Räumen im Raum zeigt die von Jana Baumann und Luisa Seipp kuratierte Einzelschau dokumentarische Filmfragmente, die Buchers akribische, körperlich anspruchsvolle und beinahe rituelle Arbeit beim Häutungsprozess veranschaulichen.
Buchers Schaffen war bahnbrechend, so hob sie das Medium Bildhauerei durch eigenwillige Materialien wie Latex und die Erweiterung mit Film, bewegtem Bild und architektonischen Skizzen auf eine neue Ebene: Die 1926 in Winterthur geborene Künstlerin sezierte nicht nur Räume, sondern auch Herrschaftsansprüche der Architektur.
Rückzug, Umformungen
So kopierte sie neben persönlichen auch problematische Orte, wie etwa das Therapiezimmer Sigmund Freuds oder die Lobby des Tessiner Grand Hotel Brissago, in dem während des Zweiten Weltkrieges jüdische Frauen und Kinder festgehalten wurden. «Ich muss allem näherkommen», sagte die Künstlerin einst: «Wir bekleben die Räume und lauschen. Wir betrachten die Oberfläche und beschichten sie. Wir hüllen und enthüllen.» Mit Raumempfinden, Körperlichkeit und Befreiung beschäftigen sich auch die «Bodyshells» Buchers. Inspiriert von Schnecken und Muscheln, erschuf die Visionärin und Neo-Avantgardistin aus Schaumstoff mit Perlmuttpigment ihre eigenen, an Vasen erinnernden Rückzugsorte.
Wandel, Vergänglichkeit
Auch ihre Modeskizzen, die sie während der Ausbildung zur Schneiderin fertigte, beschäftigten sich mit dem Verhüllen des Körpers, übereinandergezogene Schichten, die zur geometrischen Umformung statt zur schmeichelhaft umspielten Figur führten.
«Metamorphosen I» ist mit über 150 Werken die bislang grösste Retrospektive zum Schaffen der 1993 verstorbenen Künstlerin, entstanden ist sie in Zusammenarbeit mit dem Haus der Kunst München sowie dem Engadiner Muzeum Susch. Sie zeigt Buchers vielseitiges Werk in allen Schaffensphasen, neben den architektonisch anmutenden «Häutungen» auch frühe und bislang unbekannte Designstudien aus ihrer Studienzeit bei Johannes Itten und Max Bill sowie unveröffentlichtes Filmmaterial. «Metamorphosen I» hält, was der Name verspricht: Ein Lobgesang an den Wandel des Lebens, an die Vergänglichkeit, die Wiederauferstehung.